Das Orpheus-Dilemma
Von Orpheus wird berichtet, er hätte seine tote Geliebte unter der einen Bedingung ins Leben zurückführen dürfen, daß er vor ihr herginge, ohne sich nach ihr umzusehen.
So stand er vor der Alternative, entweder die Schönheit, die ihm folgte, hervorzubringen
- dann sähe er sie aber nicht -
oder aber sie anzuschauen
- dann hätte er eine Tote vor sich.
Es wird berichtet, der Sänger wählte das erste und tat dann das letztere.
Vermutung:
Die Orpheus-Geschichte beschreibt ein allgemeines Dilemma:
Man kann nichts zugleich anschauen und hervorbringen,
Theorie und Praxis schöpferischer Prozesse können nicht in einer Haltung vereinigt werden.
(Diese Vermutung ist ihrerseits eine theoretische.)
in Begriffen einer künstlerischen Theorie:
1.
Wenn Kunst eben das ist: etwas sehend hervorzubringen, dann ist eigentlich keine Kunst möglich.
Aus der Sicht der Kunst gesagt: Kunst besteht darin, etwas zu tun, was eigentlich nicht geht.
2.
a) Der Künstler ist in dem Maß fähig, Schönheit hervorzubringen, in dem er blind ist für das, was er hervor-bringt.
b) Das Künstlerische an einem Bild ist das Unsichtbare darin.
3.
Der Künstler blickt auf sein Werk mit abschiednehmendem Blick.
Vorschlag:
Verhalte dich so, als würde, was immer du siehst oder tust, beleuchtet vom Blick einer
hinter dir gehenden Schönheit.