Potenzprobleme


Der Christliche Kult und die Abendländische Kultur haben zweierlei gemein:

1. Beide gehen mit Formen um, die neue Deutungen (Inhalte) erzeugen können.
(Der Kult feiert diese Formen, die Kunst sucht solche Formen.) Ihr Vermögen, Deutungen zu erzeugen, also das Verstehen in Fluß zu halten, macht sie zu Quellen unserer Kultur.

2. Ihre Zeugungskraft hat sehr nachgelassen. Woran könnte das liegen?

Zwei Vermutungen:

1. Vermutung:
Die Kirche hat eine Kunst des Deutens und Erklärens "ihrer Botschaft" entwickelt, die das Wertvollste am Kult, seine Widerdeutigkeiten, erdrückt.

These 1
Deutungen erzeugen kann ein Geistlicher nur, wenn (und sofern) er nicht tut, was er versteht, sondern um zu verstehen.

Ausbildung (zumindest evangelische) und gemeindliche Praxis üben einen unguten Selektionsdruck auf Geistliche aus: Die herrschenden Auswahlmechanismen begünstigen jene, die nicht mehr tun und suchen, als sie verstehen.

These 2
Was zum Verstehen herausfordern soll, darf nicht schon verstanden sein.

Daraus folgt: Wenn Diener des Kultes nur weitersagen, was sie verstanden haben, dann haben sie ihre Pflicht, sich verständlich auszudrücken, mißverstanden.

2. Vermutung:
Die Kunst hat einen Kult um die Künstlerpersönlichkeit entwickelt, der sie unfähig macht zu Aussagen über sich selbst hinaus.

These 3
Der Name eines Künstlers bestimmt nicht die Qualität seiner Produkte (sondern ihren Marktwert).

Die gegenwärtigen kulturellen Auswahlmechanismen üben einen Selektionsdruck auf Künstler aus, der jene begünstigt, die am stärksten auf sich selbst beharren.

These 4
Zeichengeber, die Zeichen über sich selbst geben, können keine (anderen) Botschaften vermitteln.

Daraus folgt: Je mehr ein Künstler Aufmerksamkeit für sich selbst beansprucht, um so weniger lohnt es, ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

Falls die genannten Vermutungen zutreffen, begehen Geistliche und Künstler vergleichbare, nicht aber identische Fehler. Sie könnten, wenn sie einander den Dienst kritischer Aufmerksamkeit erwiesen, sich gegenseitig zu Wahrnehmung und Wandel der je eigenen Fehlhaltungen verhelfen.
Gelegenheit hierzu bieten Kunstausstellungen in Kirchen.

Dazu drei Überlegungen und Konzepte:

1. Überlegung:
Wenn Ausstellungen in der Kirche von ihren Inhalten her konzipiert werden, wird die Kunst leicht zur bloßen Verpackung geistlicher Aussagen funktionalisiert.

These 5
Eine Verpackung kann nicht mehr enthalten, als in sie hineingelegt wurde. Sie kann Inhalte transportieren, nicht aber erzeugen.

Um dem Künstler deutlich zu machen, was er "ausdrücken" soll, müßte ein Theologe es ihm sagen. Um es ihm sagen zu können, müßte der Theologe es verstanden haben. Was er verstehen kann, kann nicht Gegenstand des Kultes sein.

These 6
Bekanntes kann man nicht Erkennen, sondern nur wiedererkennen.
Wer Kunst als Ausdrucksmittel für geistliche Inhalte benutzt, gerät in abgeschlossene Kreise der Deutung und der Verstehenden.

1. Konzept:
Kunst hält Interpretationsprozesse offen.
Kunst kann (in der gegenwärtigen kulturellen Situation) nicht verkündigen. Sie kann dem Kult aber einen anderen Dienst erweisen:

Die Zeichen, derer sich der Kult bedient, unterliegen einer semantischen Schließungstendenz: eingespielte Deutungsmuster machen aus Bedeutungsgeneratoren Abzeichen.
(Abzeichen sind Zeichen, deren semantische Funktion sich darauf beschränkt, Zugehörigkeiten zu erklären.)

Es kann eine Aufgabe von Kunst in Kirchen sein, sich dieser semantischen Schließungstendenz zu widersetzen, die Deutungsoffenheit der Glaubenszeichen zu behaupten und dadurch etwas für die Einhaltung des zweiten Gebotes zu tun.

Dieses Konzept stößt auf ein Problem: Wer nicht erkennen, sondern nur wiedererkennen möchte (vgl. These 6), interessiert sich nicht für die Deutungsoffenheit von Glaubenszeichen.

2. Überlegung:
Wenn Ausstellungen in der Kirche vom künstlerischen Werk her konzipiert werden, wird der Kultraum leicht zum bloßen Rahmen ästhetischer Objekte funktionalisiert.

These 7
Die Präsentation einer Mehrzahl von Kunstobjekten thematisiert Möglichkeiten der Kunst, nicht des Kultes.

Wenn ein Betrachter in eine Galerie kommt, will er vor eine Anzahl von Objekten gestellt sein. - Wenn ein Betrachter zu sich selbst kommen soll, muß sich ein anderes optionales Feld auftun als das zwischen mehreren Objekten der Betrachtung (oder gar des Erwerbs).

These 8
Eine Kirche fordert mehr als Betrachtung.

Ein kultischer Bau hat eine andere Funktion, als zu zeigen, wie jemand etwas gemacht hat.
Künstlerische Präsentationen, die eine Kirche als Hintergrund nutzen, beeinträchtigen deren Anspruch an den Betrachter.

2. Konzept:
künstlerische Kommentare zum Raumtext der Kirche.
Statt Kunst im sakralen Raum auszustellen, wird der sakrale Raum durch temporäre künstlerische Eingriffe zur Geltung gebracht Kunst als marginaler Kommentar zum "Text" des Raumes. Statt den Raum als Umrahmung nutzend, wird auf den Raum zu gearbeitet. Der Arbeit des Künstlers muß in diesem Fall die Ausrichtung auf den Raum abverlangt werden.

Kunst kann auf vorhandene Räume sinnvoll reagieren, erstens um auf "Unsichtbares" in ihnen hinzuweisen, (weil vieles von der ursprünglichen Form und Funktion alter Kirchen nicht mehr wahrnehmbar ist,)
zweitens weil unsere Wahrnehmung sich verändert hat, seit die Kirchen errichtet wurden,
(Es ist ein - nur scheinbar konservativer - Irrtum, zu meinen, man könne die alten Kirchen schon allein dadurch bewahren, daß man ihren Bestand sichert. Restaurative Gesinnungen übersehen meist die Bedingtheiten der je eigenen kulturellen Perspektive.)
schließlich weil Kirchen nicht zum Anschauen gebaut worden sind, sondern um darin zu agieren.
(Die überkommene architektonische Form ist nur so etwas wie eine Spur liturgischer Bewegungen. Wer sich behutsam in einer Kirche bewegt, kann sie als "Choreographen" seiner Aktionen nutzen. Er kann sich von den alten Spuren führen lassen und hoffen, daß sie ihn zu neuen Bedeutungen und Einsichten leiten.)

Künstlerische Kommentare zum Raumtext der Kirche haben gegenüber verbalen (Führungen) und virtuellen (Abbildungen, Filmen usw.) den Vorteil, unmittelbar mit der Wahrnehmung des Raumes zugänglich zu sein.
Wahrnehmungen können meist eine weitere Deutungsoffenheit erzeugen als Worte.

Künstlerische Kommentare haben den Nachteil, als Blasphemie verstanden zu werden, wahrscheinlich aus unchristlicher Angst um Bekanntes und Bestehendes, vielleicht aber auch, weil man heutigen Künstlern die bescheidene Behutsamkeit nicht zutraut, die solche Arbeit erfordert.

3. Überlegung:
Ausstellungen richten sich an ein Publikum. Das Geschehen in einer Kirche sollte einen anderen Adressaten haben.

Geistlicher und Künstler haben ein gemeinsames Problem:
Die Mechanismen der Daseinssicherung binden sie an ihr Publikum. Das bringt sie in Gefahr, zu sehr die Publikumserwartungen zu bedienen.

These 9
Je mehr eine Botschaft die Erwartungen des Publikums erfüllt, um so weniger vermag sie ihm zu sagen.

Das (Kunst-)Publikum ist nicht die (Kult-)Gemeinde des Künstlers. Er sollte ihm nicht dienen.
Die Gemeinde ist nicht das Publikum des Geistlichen. Er sollte ihr nichts vormachen.

Ein Vorschlag: Kunst sollte anonym betrieben werden und Kult erst ab 65.

Wenn ein Geistlicher und ein Künstler zusammen eine Ausstellung machen, dann sollte der Künstler darauf achten, daß der Geistliche es nicht "für die Gemeinde" tut, sondern aus geistlicher Lust zur eigenen sinnlichen Erbauung.
Umgekehrt sollte der Geistliche darauf achten, daß der Künstler mit einer Orientierung über sein Werk und seine Person hinaus arbeitet.

Christlicher Kult und Abendländische Kunst, die beiden alten
Zeugungskräfte
unserer Kultur, sind schwächer geworden. Was sie einander in
gemeinsamen
Projekten geben könnten, wären gegenseitige Hilfestellungen,
Ratschläge,
Hinweise. Aber was die beiden wirklich brauchten, wäre neue Liebe.
Liebe können sie einander so wenig geben wie sich selbst. Was Liebe
weckt, liegt außerhalb des Liebenden.

3. Konzept: Offenheit
Die entscheidende Frage ist letztlich nicht: Was brauchen Kult und Kunst?,sondern: Was haben sie zu geben?

Kult und Kunst erfüllen ihren Auftrag nicht, indem sie das Publikum mit
Ausstellungen in die Kirchen locken, auch nicht, indem sie die Gemeinde zum
Publikum machen, sondern indem sie ihre Aufmerksamkeit nach außen wenden.

In einer Zeit, da die Frage "Wer bist Du"? Durch die Frage nach Tauschwerten ersetzt wurde, sollte die Neugier, zu wissen, wie etwas ist oder wer jemand ist, als Tugend gelten.

These 10:
Die Identität der Kirche wie die der Kunst liegt jenseits ihrer je eigenen Grenzen.

Kult und Kunst werden in dem Maß zeugungsunfähig, wie sie das Eigene innerhalb ihrer je eigenen Grenzen suchen, wie die Sorge um den je eigenen Bestand zu ihrer Hauptsorge wird.

Kultur (soll heißen: was unser Menschsein ausmacht) ist einerseits ein Bestand (an Regeln, Objekten, Eigenschaften,
Kommunikationsformen usw.) und andererseits der Prozeß der Wandlung dieses Bestandes.
Näherhin: Kultur als Prozeß ist die Quelle ihrer selbst als eines Bestandes.

These 11:
Veränderungen eines Bestandes sind nicht innerhalb seiner greifbar.

Daraus folgt: Der Bestand der Kultur ist blind für seine eigenen Quellen.

Kult und Kunst sind Quellen der Kultur insofern, als sie Mittel gebrauchen,
die Bewegungs-, Deutungs- und Verhaltensspielräume zu öffnen vermögen, so daß Menschen und Situationen sich auftun.

Die Hinwendung zum Offenen hat keine bestimmte Richtung, außer der Abwendung vom Geschlossenen. (vgl. 1.kor. 6,12)
Der Gestus der Hinwendung zum Offenen ist kein wissender, sondern ein suchender, fragender, der Gestus der Aufmerksamkeit.

Nicht "an die Öffentlichkeit zu gehen" ist die kulturelle Mission von Kult und Kunst, sondern die Grenzen des je Eigenen zu überschreiten, Offenheit zu schaffen und Öffentlichkeit herzustellen.


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